Wie wäre es, wenn …

Wie wäre es, wenn …

… wir in Health Coins, Eco Yuans und Crazy Royals entlohnt würden?

Eine eigentümliche Vorstellung − doch vielleicht ist das schon bald unsere Realität? Zumindest hat die Schriftstellerin Katharina Adler diese Vorahnung. Sie und sieben andere Literat*innen haben sich für das Projekt „Acht Visionen. Zukunft. Arbeit. Literatur“ in die Zukunft gedacht: Ihre Kurztexte beschreiben, wo wir in Zukunft arbeiten werden, welche Arbeit wir verrichten und wie wir mit unseren Kolleg*innen – egal ob Mensch oder Maschine – kommunizieren werden. In viermal zwei Lesungen stellen die Autor*innen ihre Texte im Museum für Kommunikation Frankfurt vor. „Acht Visionen“ ist ein Gemeinschaftsprojekt mit dem Literaturhaus Frankfurt und Teil des Vernetzungsforums „Leben & Lernen X.0“, das gemeinsam mit den Bürger*innen Strategien erprobt, die uns dabei helfen, die digitale Transformation besser zu begreifen. Die letzte Lesung “Epilog und Buchpremiere” wurde auf den 24. Juni verschoben, es lesen Mariana Leky und Lukas Rietzschel. Am selben Abend wird auch die Begleitpublikation vorgestellt. 

Was hat es eigentlich mit dem Suppenteller auf sich?
Wie wäre es eigentlich, wenn wir keine festen Arbeitsplätze mehr hätten und jeden Tag wie Tischlein-wechsel-dich an einem neuen, mobilen Schreibtisch sitzen würden? Daniel Wisser stellt uns in seinem Text Frau Hechtler vor, eine Versicherungsangestellte. Wenn sie nach der Arbeit mit ihren Freundinnen in einer Bar sitzt, leert sie ihre Handtasche, und zum Vorschein kommen vier Dinge, die sie jeden Tag mit zur Arbeit nimmt: ihr Laptop, ihr Mobiltelefon, ein leerer Fotorahmen und ein Suppenteller.
Den Fotorahmen stellen die Mitarbeiter*innen der Versicherung als Mahnmal für den verloren gegangenen Schreibtisch auf: Ihnen ist es untersagt, persönliche Utensilien am Arbeitsplatz zu hinterlassen. Doch was hat es mit dem Suppenteller auf sich?
„Sie hatte auf diese Frage gewartet, lächelte, trank einen Schluck von ihrem Negroni und sagte, das sei eine noch viel wildere Geschichte.“
Daniel Wisser

Zukunftsmusik
Überhaupt, wie kann die wohltemperierte Work-Life-Balance gelingen? Werden wir zu Getriebenen, die gegen die bedin- gungslose Effizienz von Maschinen ankämpfen? Um Krankmeldungen entgegenzuwirken, würden Fabriken neuerdings Fitnessgeräte in einem Kabuff neben dem Fließband aufstellen, prognostiziert Isabelle Lehn in ihrem Text „Zukunftsmusik“. Wer sich bei der Arbeit verletze, der habe sich vorher eben nicht richtig aufgewärmt. „Human Resources“ werden an Grenzen getrieben, die sie vorher gar nicht kannten. Die „Zukunftsmusik“ von Isabelle Lehn ist ein Abgesang auf die Arbeit von Bürokräften, Hilfsarbeitern, Anlagen- und Maschinenbedienern: Sie verschwinden schleichend wie das Handwerk des Pechsieders. Schöne neue Arbeitswelt!
Welch Glücksgefühl: Eine Runde am Polyplay! 
Verglichen mit den Zwängen dieser vollautomatisierten und „durchdigitalisierten“ Welt leben die Kinder aus Bullerbü im analogen Paradies: ohne Smartphones, Tablets, Internet, Spielekonsolen und Alexa. Sie angeln, fangen Krebse und laufen im Winter Schlittschuh. Jochen Schmidt – Anhänger der Lindgren’schen Landidylle, doch dem technischen Fortschritt durchaus zugeneigt – erzählt in seinem Text von seiner sozialistischen Kindheit: Wie versteinerte Fossilien aus einer naturwissenschaftlichen Sammlung zählt er technische Geräte und Kommunikationsformen auf, die seine Jugend in der DDR geprägt haben. Sie zeugen von der langsam fortschreitenden Technisierung.

Welch Glücksgefühle kamen bei dem jugendlichen Helden auf, wenn eine Runde am „Polyplay“-Spielautomaten – einem in der DDR hergestellten Arcade-Spielautomaten – gezockt werden durfte! Das letzte Telegramm mit Glückwünschen von seiner Mutter erhielt Schmidt am Tag des Mauerfalls, zu seinem Geburtstag. Fürs Sprachenlernen hatte Schmidt lange Vokabellisten auf Kassette gesprochen und auf dem Walkman beim Zähneputzen und Einschlafen gehört, um sie sich besser einzuprägen. Die Liebe zu einem osteuropäischen Mädchen pflegte Schmidt per SMS. Damals setzte sich ein digitaler Kuss noch aus einem Doppelpunkt und einem Sternchen zusammen. Doch Schritt für Schritt wich Schmidts Technikbegeisterung einer tiefgreifenden Skepsis: Es gehe doch heute eher wieder darum, analoge Schutzräume – ähnlich den drei Höfen in Bullerbü – zu verteidigen. Eine letzte Bastion des Analogen sei auch das Briefeschreiben:

Doch „[s]obald ich aus dem Haus gehe, vergesse ich, daß ich einen Brief einwerfen wollte. […] Eine meiner Geschäftsideen ist deshalb brieferando.de, ein Service, bei dem der Briefträger die Briefe nicht zu einem nach Hause bringt, sondern sie von dort abholt und zum nächsten Briefkasten trägt.“

Jochen Schmidt

Noch Vision oder Realität?

Die Visionen der acht Autor*innen deuten zum Teil weit in die Zukunft. Doch in einigen Texten scheint die Wirklichkeit nur einen Steinwurf entfernt. Die Grenzen zwischen Fiktion und Realität verschwimmen zu einem Gegenwartsbild, das unserer Lebensrealität sehr nahe kommt: Mitten im Digitalisierungsprozess, den wir durchlaufen, wissen wir nicht immer ganz genau, ob es sich noch um Vision handelt oder ob es schon längst Realität ist. Literatur kann uns dabei helfen, auf diese Prozesse zumindest ein wenig vorbereitet zu sein.

Ein Duo machte die acht Visionen noch komplett: Thomas von Steinaecker und Julia Wolf. Und zur Buchpremiere bestreiten Mariana Leky und Lukas Rietzschel noch einen Leseabend. Alle Texte werden in einer eigens für das Projekt zusammengestellten Publikation veröffentlicht.

Interviews und Ausschnitte aus den Lesungen von beteiligten Autori*innen bei hr2-kultur.

   

ACHT VISIONEN ist ein Projekt des Literaturhauses Frankfurt mit dem Museum für Kommunikation in Zusammenarbeit mit hr2-kultur. Gefördert von „experimente#digital“, der Kulturinitiative der Aventis Foundation, sowie dem Kulturamt Frankfurt am Main.  
Text: Regina Hock, 16. April 2020
Big Data is watching you!

Big Data is watching you!

Jede Woche stellen wir euch ein Phänomen aus unserer Dauerausstellung mit Blick auf die Gegenwart vor. Heute das Phänomen Kontrolle. Daten sind zum wichtigsten Rohstoff des 21. Jahrhunderts geworden. Jede*r erzeugt durch scheinbar alltägliche Klicks Datenströme. Dabei hinterlassen wir Informationen darüber, was wir mögen, wen wir kennen und wer wir eigentlich sind. Die Summe aller Daten wird “Big Data” genannt. Um seine persönlichen Informationen und Nachrichten geheim zu halten, rückt die Wissenschaft die Verschlüsselung – die Kryptografie – immer wieder in den Mittelpunkt der breiten öffentlichen Debatte.

Beim Weg zur Arbeit navigieren wir mobil, beim Kauf von Lebensmitteln nutzen wir die Kundenkarte – zwischendrin verteilen wir bei Facebook und Co. noch ein paar Likes und bei einem spannend klingenden Newsletter setzen wir noch geschwind einen Haken – so hinterlassen wir unsichtbare jedoch kostbare Spuren.

Streng geheim!

Das Phänomen seine Nachrichten geheim zu halten ist nicht neu. Bereits seit der Antike wollen Menschen ihre Informationen vertraulich teilen. Julius Cäsar verwendet 50 v. Chr. für seine Briefe noch eine einfache Buchstabenverschiebung. Ab dem 15. Jahrhundert werden sogenannte Chiffrierverfahren immer raffinierter. Ab dem 19. Jahrhundert ändert sich dies, denn Telegramme und Postkarten können auch von Dritten gelesen werden. Korrespondenzen, die nicht für die Augen von Fremden gedacht sind, können von nun an chiffriert werden.

100 Quadrilliarden Kombinationsmöglichkeiten

Im ersten Weltkrieg verschlüsselt das deutsche Militär noch per Hand, sodass der Gegner die meisten Korrespondenzen mitlesen kann. Aus diesem Grund nutzt die Wehrmacht ab 1930 die Chiffriermaschine „Enigma“ (auf deutsch „Rätsel“) – welche 100 Quadrilliarden verschiedene Kombinationsmöglichkeiten hat und scheinbar nicht entschlüsselbar ist. Scheinbar – denn was die Deutschen nicht ahnen ist, dass bereits 1932 die polnischen Kryptologen die Arbeitsweise der Enigma nachvollziehen. So können die Alliierten 80.000 Funksprüche pro Monat entschlüsseln. Mit diesem Wissen entscheiden sie den Zweiten Weltkrieg für sich.

Boykott und Protest

Ein zeitgenössischeres Beispiel für den Kampf um die eigenen Daten ereignet sich in den 1980er-Jahren in Deutschland. Das statistische Bundesamt will 1987 eine Volkszählung durchführen. Ziel soll die Feststellung von veränderten Infrastrukturen und sozialem Gefüge sein, um diese gegebenenfalls anzupassen. Innerhalb wenigen Wochen bilden sich hunderte Bürgerinitiativen, die zum Protest und Boykott der Volkszählung aufrufen. Zentraler Kritikpunkt ist, dass die darin enthaltenen Fragen Rückschlüsse auf die Identität der Befragten zulassen. Somit verstößt die Erhebung gegen den Datenschutz – und folglich auch gegen das Grundgesetz. Die Angst der Akteur*innen vor dem „gläsernen Bürger*in“ und einem „Überwachungsstaat“ ist groß. Der Protest hat Erfolg. Die Befragung wird neu konzipiert, um die Anonymität der Bürger*innen besser zu gewährleisten.

Wir sind Daten!

Da sich unser Leben mehr und mehr ins Digitale verschiebt, brauchen wir nicht nur im Analogen Regulierungen und Kontrollen, die unsere persönlichen Informationen schützen. Immer bedeutsamer werden aus diesem Grund technologische Sicherheitsvorkehrungen, wie die Anonymisierung – denn eins ist gewiss: Wir sind Daten!

Text: Caroline Dörr, 11. April 2020