Schwierige Dinge
Im Zuge eines Forschungsprojekts konnte die Herkunftsgeschichte eines spannenden Sammlungsobjekts der Museumsstiftung Post & Telekommunikation näher beleuchtet werden. Der “Handlungs-Addreß-Kalender von Frankfurt (Main) 1807“ des Frankfurter Justiziars Dr. Ludwig Heilbrunn wurde im März 2021 dem Jüdischen Museum Frankfurt übergeben.
Restitution eines Buches des Frankfurter Justizrats Dr. Ludwig Heilbrunn
Bei Provenienzrecherchen fand sich in der Bibliothek des Museums für Kommunikation ein Band mit dem Exlibris von Ludwig Heilbrunn. Der “Handlungs-Addreß-Kalender von Frankfurt (Main) auf das Jahr 1807“ des jüdischen Frankfurter Justizrates Dr. Ludwig Heilbrunn wurde im März 2021 dem Jüdischen Museum Frankfurt übergeben. Als Praktikantin der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit hatte ich die Chance, an diesem informellen Termin im coronabedingt geschlossenen Museum teilzunehmen.
Die Beschäftigung mit der Herkunft von Sammlungsobjekten gehört zu den essentiellen Aufgaben der Forschung im Museum. Insbesondere bei Kulturgut, das während der Zeit des Nationalsozialismus in Sammlungen aufgenommen wurde, ist eine kritische Untersuchung wichtig. Denn mit NS-verfolgungsbedingt entzogenem Kulturgut verbindet sich in der Forschung nach der Herkunft der Dinge, der „Provenienzforschung“, auch eine moralisch-ethische Frage. Häufig stehen dabei die unrechtmäßig enteigneten hochpreisigen Werke der bildenden Kunst wie beispielsweise im Fall Gurlitt im Fokus. Provenienzforschung nimmt aber auch die alltäglichen Dinge wie hier ein kleines Adressbuch in den Blick.
Dafür gibt es speziell ausgebildete Forscher: Von 2018 bis 2020 Peter Hirschmiller im Rahmen eines durch das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste (DZK) geförderten Provenienzforschungsprojekts die Sammlung der Museumsstiftung Post und Telekommunikation auf NS-verfolgungsbedingt entzogenes Kulturgut.
Peter Hirschmiller überprüfte alle Objekteingänge, Ankäufe und Schenkungen des ehemaligen Reichspostmuseums von Händlern und von Privatpersonen. Grundlage waren die Erwerbsakten des Reichspostmuseums, der Vorgängerinstitution der Museumsstiftung, aus den Jahren 1933 bis 1945. Die Aufgabe war umfangreich: Von der Bibliothek, der Philatelie, historischen Beständen der Brief-, Schreib- und Feldpostkultur über Objekte wie Telegraphen, Telefone, Briefkästen und Fernseher bis hin zu Großobjekten wie Postkutschen, umfasst die Sammlung der Museumsstiftung viele unterschiedliche Exponate, die heute an drei verschiedenen Sammlungsstandorten in der Bundesrepublik aufbewahrt werden.
Die Druckstöcke von Helgoland: Provenienzforschung am Museum für Kommunikation Berlin
Die Frankfurter Persönlichkeit Ludwig Heilbrunn
Bei seiner Recherche stieß Hirschmiller auf den „Handlungs-Addreß-Kalender von Frankfurt (Main) auf das Jahr 1807“. Das Reichspostmuseum hatte das Büchlein am 25. Oktober 1939 von dem Frankfurter Antiquariat Albert Glücksmann für 20,- RM erworben. Nach der Tabelle der Bundesbank war die Kaufkraftberechnung für 1939 1 RM = 4,3 €, was einem Wert des Büchleins um 80 € entsprechen würde. Zur besseren Einschätzung: der Durchschnittslohn betrug 1939 2.092,- Reichsmark. Ein kunstvolles Exlibris – ein Stempel auf der Innenseite des Buchdeckels, der Auskunft über den/die Eigentümer*in gibt – weist darauf hin, dass es sich um ein Buch aus dem Besitz des Rechtsanwaltes Ludwig Heilbrunn handelt. Nach dem Novemberpogrom im Jahre 1938 war ihm die Flucht aus Frankfurt nach Großbritannien geglückt.
Fotografie von Dr. Ludwig Heilbrunn
© Jüdisches Museum Frankfurt
Dr. jur. Dr. rer. pol. h. c. Ludwig Heilbrunn, geboren am 6. Oktober 1870 in Frankfurt/Main, war, wie ich in Erfahrung bringen konnte, ein angesehener Jurist, Politiker, Autor und Mäzen, der im Frankfurter Gesellschaftsleben eine Rolle spielte. Er war Ehrenmitglied der Frankfurter Anwaltskammer und des Deutschen Anwaltsvereins und bekleidete ab 1910 auch verschiedene politische Posten. Als Freund und enger Mitarbeiter des Frankfurter Oberbürgermeisters Franz Adickes unterstützte er dessen Ideen und politische Pläne im Stadtparlament. Auch die Gründung der Frankfurter Universität, deren Kuratoriumsmitglied und späterer Ehrenbürger er war, unterstützte er von Beginn an.
Die „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten 1933 zerstörte das Leben der Familie Heilbrunn völlig. Zunächst wurde Heilbrunn gezwungen, sein Ausscheiden aus der Anwaltskammer zu erklären, kurze Zeit später wurde ihm das Notariat entzogen. Nachdem seine Ehefrau Clara (geb. Koch) 1936 verstorben war, die beiden Söhne Rudolf Moritz und Robert Hermann bereits emigriert waren und er neben zahlreichen anderen Demütigungen mit einem Berufsverbot belegt worden war, rettete sich Ludwig Heilbrunn 1939 mit knapp 70 Jahren nach Großbritannien, wo er isoliert und verarmt lebte. Der Grundbesitz der Familie wurde 1938/39 zwangsveräußert, auch Teile der wertvollen Privatbibliothek Ludwig Heilbrunns gingen im Zuge der Emigration verloren. „Ich selbst lebe als Bettler in London“, schrieb Heilbrunn 1945 in einem Brief an seinen Sohn Rudolf. 1949 kehrte er nach Deutschland zurück, zog jedoch bis zu seinem Lebensende 1951 nicht mehr nach Frankfurt.
Das Buch
Bei dem Buch selbst handelt es sich um den „Handlungs-Addreß-Kalender von Frankfurt (Main) auf das Jahr 1807 bei Johann Philipp Streng“. Auf der letzten Seite des Buches ist handschriftlich vermerkt, es handle sich um eine „Grosse Seltenheit! [sic]“. Der Eintrag stammt wohl von dem Antiquar, der das Buch dem Reichspostmuseum angeboten hat, nicht von seinem früheren Besitzer Ludwig Heilbrunn. Der „Handlungs-Addreß-Kalender“ umfasst nicht nur die Adressen der diversen Frankfurter Handelsfirmen, sondern auch nützliche Informationen über Marktzeiten und jüdische Feiertage, Bekanntmachungen, Post- und Kurierrouten sowie übliche Zustelldauern, Portopreise, An- und Abfahrtszeiten der Marktschiffe, Quartiereinteilungen der Frankfurter Innenstadt und vieles mehr. So stellte der Kalender in der Zeit seines Erscheinens sicherlich einen unschätzbaren informativen Wert für jeden dar, der in den Handel der Stadt involviert war. Heute bietet er einen faszinierenden Einblick in die Welt des Frankfurter Handels und zeichnet ein spannendes Bild der florierenden Handelsstadt zu Beginn des 19. Jahrhunderts.
Restitution und Buchübergabe
Bei der Recherche nach möglichen Erben stellte sich heraus, dass die zwei Söhne von Ludwig Heilbrunn, Rudolf und Robert, 1939 ebenfalls das Deutsche Reich verlassen hatten. Während sich die Spur des nach Amerika ausgewanderten Sohnes Robert verlor, war Rudolf Heilbrunn in die Niederlande ausgewandert und nach 1945 wieder nach Deutschland zurückgekehrt. Seinen Nachlass hatte Rudolf dem Jüdischen Museum in Frankfurt vermacht. Daher erschien die Übergabe des Buches an das Jüdische Museum Frankfurt einer Restitution am nächsten zu kommen. Das Jüdische Museum verfügt über eine umfangreiche Sammlung zu Leben und Wirken Ludwig Heilbrunns und bewahrt das Familienarchiv sowie Teile der Privatbibliothek von Rudolf M. Heilbrunn auf. Darum kümmert sich u. a. die wissenschaftliche Mitarbeiterin für Zeitgeschichte Heike Drummer. Sie stimmte zu, das Buch in die Sammlung aufzunehmen. So wurde das Buch am 9. März dieses Jahres aus dem Besitz der Museumsstiftung Post und Telekommunikation an das Jüdische Museum Frankfurt übergeben.
Die Veranstaltung
Anlässlich des 120. Geburtstags von Rudolf M. Heilbrunn findet am 20. April 2021 um 19 Uhr eine öffentliche Veranstaltung zur Buchübergabe im Jüdischen Museum statt. Hier wird Peter Hirschmiller im Gespräch mit Dr. Corinna Engel (Museum für Kommunikation Frankfurt) und Heike Drummer (Jüdisches Museum Frankfurt) die Zusammenhänge und die Geschichte des Objekts näher erläutern.
Die Veranstaltung wird aufgrund der Pandemielage per Livestream übertragen und kann auf der Facebook-Seite und dem YouTube-Kanal des Jüdischen Museums Frankfurt verfolgt werden.
Anmeldungen zur Veranstaltung sind möglich unter: besuch.jmf@stadt-frankfurt.de.
Autorin: Violetta Wohland, 14.04.2021
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