Auch an diesen Samstag beleuchten wir ein Phänomen unserer Dauerausstellung mit Blick auf die Gegenwart. Heute ist es das Phänomen Beschleunigung: „Höher, schneller, weiter“: Die Idee, in immer kürzerer Zeit immer größere Distanzen zu überbrücken und immer höhere Ziele zu erreichen treibt Menschen seit vielen Jahrhunderten an. Man könnte sogar sagen: Sie ist der Motor des Fortschritts – zumindest in Bezug auf Technik, Kommunikationsentwicklung und Wissenschaft. Denn häufig bringt es wirtschaftliche oder machtpolitische Vorteile mit sich, eine Botschaft möglichst schnell übermittelt oder eine Erkenntnis vor allen anderen gewonnen zu haben.

Beschleunigung? Ausgebremst!

Die zentrale Gleichung scheint zu lauten: „Beschleunigung = Effizienz = höchst möglicher Gewinn“. Die meisten von uns sind mit dieser Mentalität aufgewachsen und haben sie verinnerlicht. Was bedeutet es nun – sowohl auf gesellschaftlicher als auch auf individueller Ebene – wenn Beschleunigung, die Grundlage der Gleichung, von einem Augenblick auf den anderen durch eine globale Krise wie die Corona-Pandemie wortwörtlich ausgebremst wird?

Boten

Unser Alltag ist geprägt von Stress und Zeitdruck. Wir wollen in der vorhandenen Zeit mehr erleben, mehr leisten, mehr fühlen. Diese Verdichtung beschleunigt uns weiter. Digitalisierung und Mobilität tragen dazu bei und prägen die Geschichte der Kommunikation. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts löste das elektrische Licht den Rhythmus von Tag und Nacht auf. Fortschritt war der Begriff der Stunde. Arbeitsteilung und Wachstumsstreben beschleunigen seitdem stetig Produktion, Transport und Kommunikation. Ökonomisch betrachtet ist Zeit Geld. Zeit ist zum knappsten Rohstoff der Welt geworden – wie gehen wir mit dieser Entwicklung um?

Am Anfang war der Läufer. Wichtige Botschaften wurden mündlich oder von Hand zu Hand übermittelt, die zwischen Sender und Empfänger liegende Distanz „auf Schusters Rappen“ überbrückt. Wenn die Distanz groß war, ermüdete der Bote irgendwann und die Übermittlung der Nachricht musste solange warten, bis er sich körperlich erholt hatte. Da Zeit in bestimmten Situationen aber schon immer ein kostbares Gut war, etablierte sich bald das System des Staffellaufs: Ein frischer Läufer wartete an einem zuvor festgelegten Treffpunkt, übernahm die Nachricht und übermittelte sie seinerseits am Endpunkt seiner Etappe an einen weiteren Boten.

Postreiter

Dieses System wurde später auch von berittenen Boten übernommen: Die sogenannten „Postreiter“ waren zunächst in Herbergen stationiert, übernahmen verschlossene und versiegelte Briefpakete und transportierten sie von dort zu einer benachbarten Station. Die ersten Aufzeichnungen zu diesem System finden sich in den sogenannten Memminger Chroniken aus dem Jahr 1490. Aus der gleichen Schrift geht auch hervor, dass ein berittener Bote zur damaligen Zeit auf einer Straße etwa doppelt so schnell voran kam wie ein Läufer.

Ordinari-Post

Nach 1550 etablierte sich die Ordinari-Post: Nachrichten wurden „en gros“ zu festgelegten Zeiten und auf festgelegten Strecken transportiert, jedermann konnte dieses Transportsystem nutzen. Die Postboten – ob zu Pferd oder später auf dem Kutschbock – setzen sich dabei einem recht hohen Risiko aus: Überfälle waren an der Tagesordnung. Ab Mitte des 17. Jahrhunderts wurden die Boten übrigens auch als „Postillions“ bezeichnet.

Elektrische Post

Noch schneller als mit der Post ließen sich Nachrichten über weite Strecken mittels Telegrafie übermitteln. Es gibt unterschiedliche Telegrafie-Techniken: Allen gemeinsam ist, dass Nachrichten auf eine bestimmte Art codiert, die entsprechenden Codes anschließend von Sender zu Empfänger übermittelt und dort zurück in die ursprüngliche Nachricht „übersetzt“ werden. Zentrale Voraussetzung dafür war neben der Übermittlungstechnik natürlich die geteilte Kenntnis des Codierungssystems.

Die ersten Modelle der „optische Telegrafie“ etablierte sich in Europa im 17. Jahrhundert, erfolgreich wurden sie allerdings erst im 18. Jahrhundert durch Verfeinerung und Systematisierung. Der Franzose Claude Chappes entwickelte beispielsweise eine Technik, bei der eine Nachricht mittels schwenkbarer Signalarme über 20 Stationen in nur 2 Minuten übermittelt werden konnte. Im 19. Jahrhundert wurde die optische Telegrafie dann durch die elektrische bzw. Funkentelegrafie abgelöst.

Höher, schneller, weiter – Zeit als kostbare Ressource

Auf ihrer Grundlage und mittels riesiger Unterseekabel wurde 1858 sogar erstmals eine transatlantische Telegrafenverbindung möglich. Nachrichten konnten nun in Minuten von Europa nach Amerika übermittelt werden und brauchten nicht mehr wie bisher mehrere Wochen um ihre Empfänger zu erreichen.

Einen weiteren Sprung in der Geschichte menschlicher Kommunikation bildete die Etablierung des Telefons Ende des 19. Jahrhunderts. Die Möglichkeit, gesprochene Sprache in elektrische Signale zu transferieren und eine mündliche Nachricht via Kabel praktisch ohne Zeitverlust an einen Empfänger zu übermitteln, stellte eine ungeheure technische Entwicklungsleistung dar und veränderte die Welt nachhaltig. Geographische Distanzen spielten in vielen Zusammenhänge eine viel geringere Rolle als früher – die Welt rückte enger zusammen.

Heute, in Zeiten der kommerziellen Nutzung des Internets, kann man sich in Europa kaum noch vorstellen, was es bedeutet, wochenlang auf eine Nachricht oder ein Produkt warten zu müssen. Wir sind es gewohnt, Dinge des täglichen Bedarfs, Unterhaltungsmöglichkeiten und Gesprächspartner*innen SOFORT zur Verfügung zu haben. Die Corona-Krise bedeutet vor diesem Hintergrund in vieler Hinsicht eine existentielle Erfahrung. Sie zwingt uns – im übertragenen Sinne – mitten auf der Überholspur zu einer Vollbremsung. Jetzt wird einem der Wert von Sicherheitsgurten bewusst, die man mit dem Fuß auf dem Gaspedal oft kaum wahrnimmt. Das Zuhause, in das man sich zurückziehen kann. Die Gewissheit, dass die Grundversorgung gesichert ist. Und die Möglichkeit zum Telefon zu greifen, um einfach mal seine Lieben anzurufen. Ganz ohne Eile.

Autorin: Anjuli Spieker, 4. April 2020